WORKSHOP: "Wie du im Job gesunde Grenzen setzt und kommunizierst"

Ich bin dann mal Fachärztin für Ökopsychosomatik

Jannike Stoehr

Ökopsychosomatik

„Ein Haus auf dem Land“, sagt die Frau auf der anderen Seite des Bildschirms, „das wäre etwas. Vielleicht sogar ein eigener Bauernhof. Mindestens möchte ich aber mein eigenes Gemüse anpflanzen und mich selbst versorgen.“ Ich bin nicht überrascht von diesem Wunsch meiner Klientin. Tatsächlich antworten die meisten meiner Klienten auf die Frage nach Wünschen und Träumen ähnlich. In unserer schneller werdenden Welt, verspüren immer mehr Menschen eine starke Sehnsucht nach der Natur. Während alles digitaler wird, wünschen wir uns wieder, das eigene Gemüse zu züchten oder ein Bienenvolk auf dem Balkon zu haben. Ein Ort der Ruhe auf dem Land wäre auch nicht schlecht. Irgendwie scheinen wir zu spüren, dass die Natur uns gut tut. 
Laut dem Zukunftsinstitut stecken die Amerikaner jährlich bereits 129 Millionen Dollar in die Komplementärmedizin-Forschung. In Deutschland sind knapp die Hälfte aller Menschen an Naturheilmitteln interessiert. Healthness nennt das Zukunftsinstitut diesen Trend. Weiter heißt es: „Der Healthness-Trend versteht Gesundheit als Gesamtsystem, das auch in verstärktem Maße auf Umwelteinflüsse reflektiert. Es gilt nicht nur, den Körper gesund zu erhalten, sondern auch die direkte Umgebung.“ Dem und den sich daraus ergebenden beruflichen Perspektiven möchte ich auf den Grund gehen und stoße dabei schnell auf den Begriff „Ökopsychosomatik“. 

Was ist eigentlich Ökopsychosomatik?

Bei einem Waldspaziergang im Frühjahr lerne ich den Autoren und Biologen Clemens Arvay kennen. Clemens beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Er fokussiert sich dabei auf den Effekt den der Kontakt mit Pflanzen und Tieren auf den Menschen hat. Wir steigen über Stöcker und Steine und begutachten die Bäume um uns herum. Er erzählt mir von der heilenden Wirkung des Waldes und zaubert einen Job der Zukunft aus der Tasche: Facharzt für Ökopsychosomatik.

Ökopsychosomatik
Clemens und ich bei einer Lesung aus seinem Buch „Biophilia in der Stadt“

Ökopsychosomatik meint, dass nicht nur Körper und Geist miteinander verbunden sind, sondern wir über unsere Haut, dem größten Organ des Menschen, auch mit der Umwelt. Bevor ihr euch wundert – diesen Job gibt es noch nicht. Aber Clemens findet, dass es ihn geben sollte. „Ich bin überzeugt davon, dass wir viel anfälliger für Krankheiten sind, wenn wir keinen Kontakt mehr mit der Natur haben. Die Wissenschaft belegt mittlerweile, dass die Natur eine heilende Wirkung hat“, erklärt mir Clemens, während wir weiter durch den Wald wandern.
Er erzählt mir vom heilsamen Trio des Waldes. Da sind die Terpene, das sind gasförmige Abwehrstoffe von Bäumen, die auch beim Menschen die körpereigenen Killerzellen aktivieren, die die Basis für die menschliche Immunabwehr bilden. Negativ geladene Sauerstoffteilchen nennen sich Anionen. Auch sie unterstützen unser Immunsystem. Anionen entstehen überall dort, wo Wasser noch wild sein darf und auf natürliche Weise elektrische Kräfte entstehen. Atmen wir diese Luft voller Anionen ein, geben sie elektrische Energie an die Flimmerhärchen in unserer Nase ab und bewahren uns so vor Schadstoffen und Krankheitserregern. Und dann ist da noch das „Biophilia-Bakterium“, das in humusreichen Waldböden zuhause ist. Es schützt vor Tuberkulose und stärkt wie die Anionen und Terpene unser Immunsystem. Und die Medizin könnte sich genau das zu Nutze machen.

Die Gartentherapie – Ein Vorläufer der Ökopsychosomatik

Fachärztin für Ökopsychosomatik, das will ich machen! Nur wie soll das funktionieren, wenn der Job noch gar nicht existiert? Clemens hat eine Idee. Das Feld der Gartentherapie existiere bereits und man könne es als Vorläufer der Ökopsychosomatik begreifen. An der Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik in Wien gibt es dazu sogar einen eigenen Studiengang. „Dr. Fritz Neuhauser arbeitet bereits in der Gartentherapie“, erzählt mir Clemens. „Seine Arbeitsweise kommt meiner Vorstellung vom Facharzt für Ökopsychosomatik schon ziemlich nah.“     
Clemens connected uns digital und ein paar Mails später steht fest: Ich darf für eine Woche im Krankenhaus Hietzing in Wien im Feld der Gartentherapie arbeiten. Fritz und ich verabreden uns für eine Woche im Mai. „Lass uns zum Frühstück bei mir Zuhause treffen“, schlägt Fritz vor, der aus einer Woche Nachtschicht kommt und an meinem ersten Arbeitstag eigentlich frei hat. „Nach der Nachtschicht kann ich Gartenarbeit gut vertragen.“ Auch an seinen freien Tagen verbringt Fritz viele Stunden im Krankenhaus. Die ökopsychosomatische Arbeit findet aktuell noch zu weiten Teilen außerhalb seiner regulären Arbeitszeiten statt, die er als Allgemeinmediziner und als Psychotherapeut leistet.

Gartentherapie
Fritz bei der Arbeit

Die Natur als Ort der Heilung

Mit dem Blick in einen wilden Garten sitzen wir auf Fritz Terrasse und planen die Woche. „Die gartentherapeutische Arbeit findet hauptsächlich hier in Hietzing statt. Da bin ich noch involviert bei IGOR, einem Verein, der sich um geflüchtete Menschen kümmert. Ein paar leerstehende Klinikgebäude werden aktuell als Flüchtlingsunterkunft genutzt. Menschen, die fliehen mussten, leiden häufig unter Traumata. Es ist gut, im Garten mit ihnen daran zu arbeiten“, erzählt mir Fritz. Früher sei dort die Geriatrie gewesen. Für die geriatrischen Patienten wäre die Zeit im Garten auch besonders wertvoll gewesen. Ich erfahre, dass Gartentherapie viele verschiedene positive Effekte auf die Patienten hat. Die therapeutische Arbeit könne das Wohlbefinden steigern bei psychosomatischen oder psychiatrischen Erkrankungen.

„Der Anblick der Natur aktiviert einen wichtigen Teil unseres Nervensystems, der für psychische Ruhe und körperliche Regeneration zuständig ist. Es handelt sich um den Parasympathikus“, schreibt Clemens in seinem Buch (Biophilia in der Stadt, S. 141 f).

Das deckt sich mit dem, was die Menschen in meiner Berufsberatung sagen. Ein Aufenthalt in der Natur regeneriert und erdet.
Bei der Gartentherapie kommen noch körperliche Aktivitäten hinzu. Eine ausgebildete Fachkraft leitet die Patienten in der Gartenarbeit an. Die sensorische Wahrnehmung wird bei dem Kontakt mit der Natur geschult, die motorischen Fähigkeiten gefordert sowie die soziale Interaktion zwischen den Patienten gefördert. „Auch therapeutische Gespräche lassen sich bei der Gartenarbeit ganz anders führen“, sagt Fritz. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich die Patienten viel schneller öffnen, als in der Praxis.“ 

Mein Arbeitsplatz ist ein Blütenmeer

Wir decken den Frühstückstisch ab und machen uns auf den Weg in die Klinik. Ein eindrucksvolles Gelände wartet auf mich. Auf zehn Hektar finden sich ursprünglich in dreizehn Pavillons die verschiedenen Disziplinen des Krankenhauses wieder. Mittlerweile stehen einige Häuser leer. Wir biegen rechts ab, dann links, laufen an einer Kirche vorbei, den Hügel hoch, biegen wieder links ab, überqueren einen kleinen Platz bis wir schließlich vor einem Gartentor stehen. Fritz greift in seine Hosentasche und zieht einen Schlüssel heraus. „Das hier ist unser Garten“, sagt Fritz und schubst das Tor auf. Ich betrete die kleine Grünfläche hinter einem der Häuser auf dem Klinikgelände. Schnell stehe ich kniehoch mitten in wilden Gräsern und Blumen in einem Blütenmeer. Noch kann ich mir die Gartentherapie nicht konkret vorstellen. Unkraut jäten und Blumen ziehen, das soll es sein? Fritz steuert auf ein zweites Tor am hinteren Ende des Gartens zu und deutet mir an, mitzukommen.
Wir laufen die Straßen des Klinikgeländes entlang und steuern auf ein großes und offensichtlich belebtes Gebäude zu. Durch einen PVC Streifenvorhang, wie man ihn sonst auch im Lager findet, betreten wir Wiens größte Flüchtlingsunterkunft. Bis zu 1.400 Menschen haben hier zeitgleich bereits gelebt. „Grüß dich“, ruft Fritz dem jungen Mann zu, der uns entgegen kommt, und streckt ihm die Hand entgegen. „Wie geht es dir?“ „Der Bescheid ist noch nicht durch. Immer warten, warten“, antwortet er und stellt sich mir als Ahmed vor. Sein Asylantrag läuft noch. Bis der entschieden ist, muss er warten. Arbeiten darf er nicht. Wir treffen noch weitere Bewohner des Heims. Kinder toben über den Flur. Mit dem Fahrstuhl geht es ins Kellergeschoss.
Gartentherapie
Im Keller befinden sich die Räume von IGOR. IGOR steht für Integrationsarbeit und Gesundheitsförderung im öffentlichen Raum und ist eine Einrichtung des psychosozialen Gesundheitsdienst. Der Verein unterstützt geflüchtete Menschen bei der Integration und Inklusion. Menschen, die hier her kommen, sollten die Möglichkeit bekommen, ihr Selbstwertgefühl wieder zu steigern, sich psychisch zu stabilisieren, Selbstwirksamkeit zu erfahren und Resilienz zu entwickeln, findet Fritz. Finde ich gut.
Ich trete ein in einen großen Gemeinschaftsraum mit einer kleinen Bibliothek und zwei Arbeitsplätzen. Dahinter schließen sich ein Computerraum und eine Küche an. IGOR hat bereits mehrere Auszeichnungen bekommen. 2016 wurde dem Flüchtlingsprojekt der Preis „Bildung für nachhaltige Entwicklung – Best of Austria“ verliehen. Ich finde schön, dass die Arbeit hier gesehen wird. Fritz beendet die Führung mit einer Einladung für den nächsten Tag. Um zehn Uhr wollen wir uns am nächsten Tag hier in den Gemeinschaftsräumen wieder treffen. 

Blumenernte und Gesprächstherapie

Wenn das so einfach wäre. Der nächste Tag beginnt mit einer ordentlichen Verirrung. Das Flüchtlingsheim finde ich auf dem 10 Hektar großen Gelände beim besten Willen nicht wieder. Irgendwann sehe ich ihn dann doch wieder: Den PVC-Vorhang. Unten im Gemeinschaftsraum treffe ich neben Fritz heute auch auf meine dieswöchigen Kolleginnen Monika, Dorothea und Brigitte, drei sehr herzliche Frauen. Nach einem ersten Kaffee machen wir uns an die Arbeit. Auf den Fluren des Heims suchen wir nach Willigen für die Gartenarbeit.
Schließlich findet sich jemand: Madhi heißt er und ich werde ihm in dieser Woche noch öfter über den Weg laufen. Madhi, Fritz und ich machen uns auf in den Therapie-Garten. Ausgestattet mit Eimer und Scheren ernten wir Blumen. Die meisten von ihnen blühen bereits. Bunte Sträuße wollen wir heute in der Klinik verteilen und so die Natur auch in die Krankenhaus-Flure bringen. Genau wie Fritz es gesagt hatte – während der Gartenarbeit kommt ganz leicht ein Gespräch zustande. Madhi erzählt mir von seiner Flucht. Sechs Mal habe er versucht mit dem Boot nach Europa zu gelangen. Fünf Mal sei er gescheitert. Das sechste Mal war erfolgreich. Jetzt warte er auf seine Aufenthaltsgenehmigung und die Möglichkeit, in seinem Beruf als Stuckateur und Handwerker arbeiten zu können. Wir pflücken Blumen und reden und reden und pflücken Blumen. Der Eimer wird immer voller und bald schon haben wir einen riesigen Wildblumenstrauß zusammen.

Werben für die Ökopsychosomatik

Mit dem Eimer ziehen wir durch das Krankenhaus und verteilen Blumensträuße auf den einzelnen Stationen. „Den Kollegen tut so ein bisschen Natur im Büro ja auch gut. Wer freut sich nicht über einen Blumenstrauß?“, will Fritz von mir wissen. Und tatsächlich schauen wir in strahlende Gesichter, als wir mit den Blumen in der Hand an die Bürotüren klopfen. Vielleicht geht es bei unserem Besuch auch ein Stückweit darum, für die Gartentherapie zu werben. „Gerade zu Beginn ist oft der Anschein entstanden, dass wir uns draußen nur vergnügen, während drinnen gearbeitet wird“, erzählt Fritz. „Aber wem geht es in der Natur nicht gut? Und darum, dass es den Menschen wieder gut geht, ob körperlich oder psychisch, darum geht es ja.“
Je nach Patient und Anliegen bekommen die Menschen in der Gartentherapie unterschiedliche Aufgaben. Nicht jeder erntet zu jedem Zeitpunkt Blumen. Für manche Menschen ist es heilend, Blumen zu pflanzen und ihr Wachstum über die Zeit hinweg zu erleben. Selbstwirksamkeit ist es, die dabei gefördert wird. Andere wiederum schätzen den meditativen Vorgang beim Unkraut jäten und können so beispielsweise an ihrem Perfektionsanspruch an sich selbst arbeiten. Der Garten bietet unzählige Möglichkeiten zur Selbsterkenntnis. Ich selbst ertappe mich bei der Gartenarbeit dabei, meine Aufgaben ordentlich und gut machen zu wollen und sie dennoch schnell zu erledigen, um möglichst viel zu schaffen. Diese Erkenntnis nehme ich mir mit. 

Sich Freiräume für zukunftsfähige Tätigkeiten zu schaffen, erfordert Eigeninitiative

Fritz und ich machen in dieser Woche neben der Gartenarbeit und der Interaktion mit den geflüchteten Menschen noch einen Ausflug in die Gerontopsychatrie und an die Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik Wien. Die Arbeit in der Gerontopsychatrie ist Fritz eigentlicher Job. Den Freiraum in der Gartentherapie musste und muss er sich erarbeiten. Er macht es wie viele Menschen in Zukunftsberufen: Er schafft sich innerhalb eines Systems Freiräume für die Dinge, die ihm wichtig sind und die für andere einen Mehrwert stiften. Einfach ist das nicht. Es geht dabei nicht nur um die Doppelbelastung, sondern auch um die Akzeptanz dessen unter den Kollegen. Aber es ist möglich. Fritz Beispiel zeigt es. Und das der Menschen, denen die Gartentherapie hilft. 
Wenn es nach Clemens Arvay gibt, dann ist nicht nur die Gartentherapie irgendwann an Krankenhäusern etabliert, sondern auch die Ökopsychosomatik. Die Ökopsychosomatik geht in der Medizin nämlich noch einen Schritt weiter und nutzt die Natur gezielt zur Förderung der Genesung, als auch zur Wahrung der Gesundheit. „Viele Wirkungsweisen sind mittlerweile wissenschaftlich belegt. Warum sollten diese Erkenntnisse nicht von unserem Gesundheitssystem genutzt werden?“, findet der Biologe. Logisch nachvollziehbar ist das alles für mich. Sollte ich einmal schwerwiegender krank sein, dann wünsche ich mir auch einen Ort in der Natur, an dem ich ins Grüne schauen, Terpene und Anionen einatmen und die Ruhe genießen kann, die im Stadtlärm oft nur schwer zu finden ist. 
Ich denke noch einmal darüber nach. Warum eigentlich warten bis ich krank werde?  

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