Mein Herz hüpft, wenn ich hier so sitze und mir die vergangenen Tage durch den Kopf gehen lassen. Ich bin einfach verzückt, auf welch´ großartige Weise der menschliche Körper funktioniert. Am Mittwochabend kurz vorm Einschlafen spüre ich, wie meine Organe im Bauchraum in Richtung Matratze rutschen, als ich mich auf die Seite drehe, spüre, wie meine Lunge arbeitet und meinen Brustkorb hebt und wieder senkt. Ich lebe. Und mein Körper funktioniert. Und die Organe – alle gehören mir. Ich schlafe mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein und in dieser Nacht so gut wie lange nicht mehr.
Am Montagmorgen treffe ich in der Uniklinik Leipzsch auf Katrin Schierle, Oberärztin in der Pathologie. Mit der lebensfrohen Pathologin lande ich einen Glückstreffer, ist sie doch in der Lage, komplexeste Sachverhalte für einen Fachfremden verständlich herunterzubrechen. Genau das, was ich diese Woche brauche. Nach einer Dienstbesprechung mit allen Ärzten der Abteilung, einem Rundgang und zwei Sets Arbeitskleidung – hellblau für die Mittagspausen und dunkelblau für die Arbeit, bei der man sich auch mal schmutzig macht – greift Katrin schon beherzt mit ihren beiden Händen in einen Eimer voller Formalin, holt eine 3,5 kg schwere Leber heraus und schneidet sie auf dem Tisch in feine Scheiben. Ich sitze ihr in der dunkelblauen Arbeitskleidung, Turnschuhen, einem Ganzkörper-Kittel, einem Paar Handschuhe und einer Schutzbrille gegenüber, neben mir eine studentische Mitarbeiterin, die heute protokolliert, die Kapseln für die Gewebeproben sortiert und nach dem Zuschnitt wieder verschließt. So sieht also eine Leber aus? Und so die Galle?
Wer mich in dieser Woche Professor Börne über die Schulter in eine Leiche schauend vor sich gesehen hat, wird enttäuscht sein. Denn mit einem großen Vorurteil muss ich an dieser Stelle direkt einmal aufräumen: Pathologen sind keine Rechtsmediziner. Und nein, hier sieht es nicht so aus, wie die Szenerie der Todesursachenermittlung im Tatort. Pathologen beschäftigen sich über 90 % ihrer Arbeitszeit mit der Diagnostik von Gewebeproben lebender Menschen. Weniger als 10 % ihrer Zeit verbringen sie im Sektionssaal.
Deswegen landen auf dem Tisch im Labor auch nur Organe, die entweder durch eine Transplantation ersetzt werden konnten oder nicht zwingend überlebensnotwendig sind, wie zum Beispiel die Galle, Milz und eine der beiden Nieren. Amputierte Gliedmaßen oder abgetriebene Feten können sich auch unter den Einsendungen befinden. Der Zuschnitt größerer Präparate ist wesentlicher Bestandteil der Arbeit eines Pathologen und wird ausschließlich von Ärzten durchgeführt. Katrin schneidet, misst und wiegt, drückt mit ihrem Fuß auf das Pedal unter dem Tisch, aktiviert somit das Mikrophon und spricht ihre Befunde in einem Wahnsinns-Tempo auf Band. Makroskopie nennt sich dieser Vorgang, der Befund mit dem bloßen Auge. So schnell wie die Pathologen sprechen, laufen sie übrigens auch, fällt mir während meiner Woche auf. Für die Betrachtung des Gewebes unter dem Mikroskop wählt Katrin Stücke aus, die für sie kritisch aussehen. Die Ränder werden ebenfalls überprüft, damit sichergestellt werden kann, dass sich in diesem Bereich nur gesundes Gewebe befindet und nicht nachoperiert werden muss.
Die Proben werden über Nacht entwässert und in Paraffin gegossen. Am nächsten Tag kommen lauter kleine Paraffin-Blöcke aus den Hightech-Geräten heraus. Diese werden von den medizinisch-technischen Assistenten so zugeschnitten und eingefärbt, dass die Ärzte sich die Zellen der Gewebeproben dann unter dem Mikroskop ansehen können. Wie die Zellen aussehen, zeigt mir Katrin die Tage darauf. Durch das Mikroskop in ihrem Arbeitszimmer können zwei Personen gleichzeitig gucken. Die Zellen sehen für mich wie feine Gemälde aus, rosa, pink und lila, mit Flächen und Punkten, Rändern und Löchern. „Siehst du die rosa Kreise hier unten?“, fragt mich Katrin. „Das sind Krebszellen.“ Mitgefühl hat übrigens während der Analysen keinen Platz. Der nötige Fokus würde dadurch verloren gehen und eine geschönte Diagnose hilft keinem.
Ich lerne, dass es neben Entzündungen und Gewebeveränderungen unzählige Krebsarten und die verschiedensten Mutationen gibt. Lungenkrebs ist nicht gleich Lungenkrebs. Ein fotografisches Gedächtnis und eine hohe Analysefähigkeit machen einem Pathologen die Arbeit leichter. Wie sehen die Zellen und die Mutationen aus, habe ich das schon einmal gesehen und wenn ja, wo. Zur Not werden Krebslexika gewälzt, bis die richtige Art gefunden ist. Wie Memory stelle ich mir diese Arbeit vor. Unter dem Mikroskop hat man das eine Bild, das andere muss man in seinem Gedächtnis oder den Lexika unter zigtausenden von ähnlichen Bildern finden.
Bei der Diagnostik gilt das Vier-Augen-Prinzip, schließlich ist die gesamte Anschlusstherapie eines Patienten von der Diagnose abhängig. Und je nach Gewebeveränderung helfen unter Umständen nur ganz bestimmte Behandlungen, manche wiederum auch nicht, die dem Patienten dann von vorneherein erspart werden können. Eine präzise und vor allem korrekte Diagnose kann so Leben retten. Wem schon einmal Gewebe entnommen wurde, hatte auch schon einmal mit einem Pathologen zu tun, nur dass vermutlich der behandelnde Arzt das Sprachrohr war.
Pathologen sind wie Architekten echte Allrounder. Während sich alle anderen Ärzte auf einen Körperbereich spezialisieren, müssen die Pathologen die Funktionsweise und den Aufbau aller Organe und Körperbereiche drauf haben und müssen wissen, wie die Chirurgen operieren, damit sie die Teile, die untersucht werden, gedanklich wieder in den Zusammenhang zum ganzen Körper setzen können und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen können.
Während meiner Tage in Leipzig lerne ich vom Chef persönlich, dass die Stärken eines guten Pathologen genau hierin liegen. Nämlich im Erkennen einer Struktur und der Zuordnung zu bestimmten Zusammenhängen liegen. Daneben sollte er über eine gute Organisations- und Kommunikationsfähigkeit verfügen. Die Notwendigkeit dieser beiden Fähigkeiten erkenne ich im Tumorboard, in dem Ärzte diverser Fachrichtungen zusammensitzen und die weitere Behandlung von Krebspatienten besprechen. Jeder bringt sein Wissen mit ein und ist damit nicht nur mehr Pathologe, Radiologe, Onkologe und wie sie alle heißen, sondern Teil eines großen Ganzen, das mit gesammelter Kompetenz das beste für den Patienten herausholt.
Darüber hinaus bekomme ich einen Einblick in eine privat geführte Praxis für Pathologie, dessen Leiter, Herrn Schneider, ich direkt ins Herz schließe. Auch die Mitarbeiterin, die mich begrüßt und mir alles zeigt, besticht durch Herzlichkeit und ihre freie Schnauze – „man nennt misch och den Magenschneider“.
Kurzzeitig kommt mir der Gedanke in den Sinn, dass auch ich ja so ganz im realen Leben Pathologin werden könnte, wenn ich mich nur dazu entscheiden und die 14-jährige Laufbahn dorthin in Kauf nehmen würde. Mir fällt dazu ein Zitat von Jeff Bezog, Gründer von amazon, in den Kopf: „In the end, we are our choices. Build yourself a great story“. Auch wenn die Antwort auf die Frage nach meinem persönlichen Traumjob „nein“ lautet, nehme ich die Vorstellung an mein Pathologen-Ich mit und behalte meine Woche in schöner Erinnerung.
Vielen lieben Dank an Professor Dr. Wittekind, an Katrin Schierle und die Kollegen der Pathologie der Uniklinik Leipzig, an Herrn Schneider und Ines und last but not least an Jonas!
PS: Geht zur Vorsorge, Leute!
Und hier geht es zu meinem whatchado-Interview mit Katrin Schierle!
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