„Politiker sind der letzte Dreck“, kommt es mir fast jedes Mal entgegen, wenn ich erzähle, wohin mich meine letzten Jobs bringen werden. Dabei gucke ich in missbilligende Gesichter. „Den Job brauchst du gar nicht erst testen!“. Ich fühle mich schuldig und tue es trotzdem.
In Brüssel treffe ich auf Matthias Groote, SPD Mitglied und EU Abgeordneten. Im vergangenen Jahr hatte er noch als jüngster Vorsitzender aller Zeiten den Vorsitz des Umweltausschusses, kurz ENVI, inne. Seit 2014 ist Matthias Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. „Wir teilen uns Matthias in einer Dreier-Beziehung mit dem deutschen Wahlkreis und seiner Familie“, erzählt mir Tara, eine Mitarbeiterin des Brüsseler Büros. „Matthias arbeitet sieben Tage die Woche. Die einzige Regel ist, keine Termine am Sonntag nach 14 Uhr zu vereinbaren.“
Bei einem Abendessen lerne ich Matthias am Montag dann persönlich kennen. Er ist frisch aus dem Wahlkreis gekommen. Schnell wird klar, dass Matthias sagt, was er denkt und viele unserer Ansichten übereinstimmen. Ich kann dem Zufall wieder einmal gratulieren, dass er mich zum 29. Mal zur richtigen Adresse gebracht hat. So gefällt mir das.
Zufriedenheit im Job hängt maßgeblich vom Chef ab
Bereits seit zehn Jahren arbeitet Matthias unter der Woche in Brüssel, seine Assistenten wechseln alle zwei bis fünf Jahre. „Assistent zu sein ist kein Job, den man für immer macht. Es ist sehr anstrengend und kein Assistent hält das Tempo sein Leben lang durch. Und die Assistentenstelle dient auch als Sprungbrett“, erzählt Matthias. Im Büro in Brüssel arbeiten drei Menschen für Matthias. Agnes und Felix arbeiten vor allem inhaltlich, wobei Agnes auch für die Büroleitung verantwortlich ist. Tara ist für die Kommunikation zuständig. Zwei weitere Kollegen zählen im Büro im Wahlkreis zu Matthias Team. „Wenn Matthias nicht wiedergewählt wird, haben auch wir keinen Job mehr“, ergänzt Agnes am Tag darauf. „Außerdem kann ich an einer Hand abzählen, für wen ich im Parlament alles arbeiten würde. Ob die Arbeit Spaß macht, hängt maßgeblich vom MEP ab.“ MEP steht dabei für Member of the European Parliament.
Klonfleisch auf den Speiseplan?
Während die unzähligen Flure im Parlament am Montag noch menschenleer waren, sprinten wir am Dienstag bereits im Slalom durch Menschenmengen in Richtung Sitzungssaal. Durch ein Labyrinth an Fluren geht es zur Vorbesprechung der Abstimmungen, die am Mittwoch stattfinden werden. Klonfleisch, Kreislaufwirtschaft und Energieunion stehen auf dem Programm. Klonfleisch? „Es geht darum, ob Fleisch und andere Produkte von geklonten Tieren oder deren Nachkommen auf den europäischen Märkten vertrieben werden dürfen“, erklärt mir Matthias. „Das können wir allein schon aus dem Aspekt des Tierschutzes nicht zulassen. Die meisten Klone gehen elendig zu Grunde.“ Auch zur Kreislaufwirtschaft und Energiepolitik vertritt Matthias eine klare Meinung. „Wir müssen nachhaltiger produzieren und Rohstoffe wiederverwerten, damit wir nicht unsere Lebensgrundlage zerstören. Darüber hinaus müssen wir noch mehr auf erneuerbare Energien setzen“.
Der Ausschuss wird eröffnet. Der Vorsitzende sitzt wie ein Richter vor versammelter Mannschaft und begrüßt die Anwesenden. Rund 70 der insgesamt 751 EU-Abgeordneten aus den 28 Mitgliedsstaaten sitzen im ENVI (Umweltausschuss). Heute werden Punkte aus zwei Berichten vorgetragen. Ein Bericht wird von einem Abgeordneten erarbeitet und enthält Gesetzesentwürfe. Jeder ist mal mit einem Bericht dran, es sei denn man hat als Abgeordneter Sonderaufgaben, wie beispielsweise eine Sprecherfunktion. Nachdem die Berichterstatter in das jeweilige Thema eingeleitet haben, dürfen die Abgeordneten ihre Standpunkte vortragen. „Wenn wir jetzt noch neue Kohlekraftwerke bauen, müssen wir auch daran denken, dass die ein Weilchen laufen müssen, bis sich die Investitionen rechnen. Der Bau des Kohlekraftwerkes in Eemshaven beispielsweise bedroht den Tourismus der Nordseeinseln in meinem Wahlkreis“, trägt Matthias der Runde vor. „Auch diese Aspekte müssen berücksichtigt werden.“
Im Ausschuss wird abgestimmt
Am Mittwoch wird schließlich abgestimmt, ob die Berichte mit den entsprechenden Gesetzesvorschlägen angenommen und die Verhandlungen mit der Europäischen Kommission und dem Rat, also den Mitgliedstaaten, aufgenommen werden können. „Änderungsantrag 21. Wer ist dafür? Dagegen? Enthaltungen? Angenommen!“, rattert Giovanni La Via, der Vorsitzende des Ausschusses herunter. Wie in der Schule melden sich die Abgeordneten bei der einen oder anderen Frage. Der Vorsitzende entscheidet per Augenmaß, wofür die Mehrheit gestimmt hat und nimmt für das Protokoll den Änderungsantrag an oder lehnt ihn ab.
Wenn ein Abgeordneter das Ergebnis überprüfen möchte, ruft er „Check“ und eine elektronische stimmgenaue Abstimmung folgt. Einige Politiker in den vorderen Reihen zeigen mit ihrem Daumen bei den Abstimmungen entweder nach oben und unten. „Das sind Schattenberichterstatter“, flüstert mir Felix zu. „Die zeigen ihren Fraktionsmitgliedern, wie gestimmt werden soll.“ Abgefahren. Da wird per Fingerzeig darüber entschieden, ob zukünftig Klonfleisch auf meinem Teller landet oder nicht. Wobei so einfach ist das auch wieder nicht. Schließlich muss sich das EU Parlament noch mit dem Rat einigen, bevor die EU Kommission gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten das Gesetz umsetzt.
Fitness im EU Parlament
Wenn Matthias und sein Team nicht in einem der Sitzungssäle sitzen, dann brüten sie über Gesetzesentwürfen und Berichten, recherchieren, sitzen in Terminen oder rennen durch das Gebäude. „Da kommen schnell mal 10 Kilometer am Tag zusammen“, kommentiert Tara das Gerenne. „Und ich dachte, ich fange einen Schreibtisch-Job an.“ Auch für mich ist der Job des Politikers die größte Überraschung unter meinen bisher getesteten Berufen. Im Parlament ist es viel spannender und schneller und dabei deutlich weniger trocken, als ich es vermutet hätte.
Die Entscheidungen, die hier getroffen werden, erscheinen mir wichtig und betreffen ganz konkret mein persönliches Leben. Ob es um den Zugang zu Medikamenten geht, die Nahrungsmittel auf meinem Teller oder um die Luft, die ich atme – ich habe mich in den letzten Jahren viel zu wenig für sie interessiert. Oder vielleicht hatte ich auch resigniert. Weil keine Partei in Deutschland meinen genauen Vorstellungen entsprach und selbst wenn, sowieso nichts passierte und die Versprechen weitestgehend leer blieben. Dann lieber ganz die Augen zu kneifen und nur hin und wieder mal blinzeln, um zu gucken, ob nach Steuerabzug noch genügend Gehalt übrig geblieben ist. Die Finger, die sich in der Abstimmung am Mittwoch für Klonfleisch auf den europäischen Märkten gehoben haben, haben mich noch einmal nachdenken lassen, ob meine Strategie wirklich die richtige war. Eher nicht.
Traumjob: Politikerin?
Ob ich mir einen Job im Abgeordneten-Büro vorstellen könnte? Die Antwort überrascht mich selbst am meisten, denn sie lautet: ja, kann ich. Zumindest in diesem hier. Denn wie Agnes schon sagte, ist die Arbeit wahnsinnig abhängig von dem oder der jeweiligen MEP. Zudem erscheint mir die Arbeit abwechslungsreich, sinnvoll und wichtig zu sein. Sie erfordert zudem Köpfchen und Fingerspitzengefühl. Eine gute Kombination, die auch Gefahren birgt, aber deren Ausgestaltung in der Hand jedes Einzelnen liegt.
In dieser Woche bedanke ich mich ganz herzlich bei Matthias, Agnes, Tara und Felix! Bei Tina, Micha, Daniel, Carmine und Sönke!