Interview über das Glück mit Dr. Tal Ben-Shahar, Harvard – geführt von Emilio Galli-Zugaro und Jannike Stöhr. Aus dem Buch „Ich bin so frei“.
1970 in Israel geboren, hat Tal Ben-Shahar, der sein Psychologie-Studium bis zur Promotion in Harvard absolviert hat, mehrere weltweite Bestseller auf Basis seiner Forschung über das Glück geschrieben und das Fach in vollen Hörsälen in Harvard gelehrt. 2011 hat er mit Angus Ridgway Potentialife gegründet, ein Unternehmen, das Firmen in Fragen der Führung berät. Mit ihm reden wir über das Glück im Berufsleben.
Was macht ein glückliches Berufsleben aus?
Ein Leben, das voller Bedeutsamkeit und Sinn ist. Dinge zu tun, die einem auf zwei Ebenen wichtig sind. Erstens, zu versuchen, Bedeutung in der Arbeit zu finden, einen Unterschied in der Welt zu machen. Zweitens: Sinn in der Interaktion mit Kollegen in der täglichen Arbeit zu finden, in der täglichen Erfahrung, sich kompetent fühlen und Interesse haben an dem, was man tut.
Kann man mit seiner Arbeit unglücklich und trotzdem glücklich mit seinem Leben sein?
Das ist schwieriger. Aber es ist möglich, wenigstens zum Teil: Wir können die glücklichen Momente unseres Lebens in die weniger glücklichen „duchsickern“ lassen. Wenn wir ein oder zwei Stunden privaten Glücks am Tag haben, können wir generell glücklicher sein. Aktivitäten, die freudig und sinnvoll sind, können den Rest unseres Tages beeinflussen. Die Metapher, die ich gern verwende, ist, dass Unglück Dunkelheit ist. Schon eine kleine Kerze reicht aus, um zumindest etwas Licht in den dunklen Raum zu bringen.
Martin Seligman unterscheidet zwischen Jobs, die man macht, um zu überleben, einer Karriere, die man einschlägt, um einen bestimmten Job zu erreichen, und dem Job, den man auch machen würde, wenn man nicht bezahlt würde. Kann man in all diesen Kategorien glücklich sein?
Es ist möglich, in den meisten Arbeitssituationen glücklich zu sein. Selbst in den alltäglichsten Tätigkeiten kann man eine Bedeutung finden, eine Freude, die zu Licht in der Dunkelheit führen kann.
Welchen Anteil am Gesamtglück hat die Bedeutung von Glück im Arbeitsleben?
Heute ist das Jobglück im Durchschnitt wichtiger als in der Vergangenheit. Menschen verleihen ihrem Arbeitsleben mehr Gewicht. Es geht nicht mehr nur darum, Geld zu verdienen. Die Menschen klettern in der Maslow-Pyramide höher, von den grundlegenderen Bedürfnissen des Überlebens hin zur Selbstverwirklichung. Bei der Arbeit geht es auch um Beziehungen, Selbstwertgefühl und Selbstverwirklichung. Sie ist daher ein zentralerer Teil des Glücks geworden. Aber natürlich gibt es Unterschiede, für manche ist die Arbeit wichtiger als für andere. Es hängt wirklich davon ab, wo sich Menschen auf der Maslow-Pyramide befinden. Für mich ist Arbeit ein zentraler Teil meines Glücks. Für einen engen Freund von mir ist sie wichtig, aber nicht zentral.
Was halten Sie von dem Begriff „Work-Life-Balance“?
Dieser Begriff spricht mich nicht an. Ein Freund von mir fragte mich, wie viele Stunden ich pro Tag arbeite. Ich kann es ehrlich nicht sagen. Was ist, wenn ich ins Kino gehe, um einen Film zu sehen? Ich könnte Ideen und Inspiration für meine Arbeit bekommen, wenn ich ihn mir ansehe. Die Unterscheidung zwischen Arbeit und Leben ist nicht wirklich notwendig. Eine hilfreichere Unterscheidung ist zwischen Arbeit und Ruhe und Erholung. Tony Schwartz schrieb ein Buch („The Power of Full Engagement“), in dem er über die Bedeutung der Genesung spricht. Stress ist keine schlechte Sache, er kann gut für Sie sein. Aber Sie brauchen Zeit für die Erholung. Es ist wie beim Sport. Wenn Sie Sport treiben, ist das grundsätzlich gut für Ihre Muskeln. Aber Sie brauchen auch Ruhe. Und wir nehmen uns nicht genug Zeit für die Erholung. Dies kann eine kurze Pause sein, eine Tasse Kaffee, Freunde treffen, ins Fitnessstudio gehen. Oder es kann eine mittlere Pause sein, eine gute Nachtruhe, ein oder zwei freie Tage pro Woche. Oder es kann eine längere Erholung wie zum Beispiel ein Urlaub sein. Sie müssen die richtige Menge an Erholung für sich selbst finden.
Wie ist die Beziehung zwischen Motivation und Glück?
Motivation kann aus verschiedenen Quellen kommen. Sie kann intrinsisch oder extrinsisch sein, sie kann aus Angst oder Freude kommen. Intrinsische Motivation ist mit Glück verbunden. Manche nennen es Flow. Sie sind dann sehr engagiert. Dies ist die nachhaltigste Variante von Motivation und die dem Glück am nächsten kommende. Geld schafft keine loyale Beziehung zu einem Arbeitgeber. Angst auch nicht.
Kann ich Glück halten, es nachhaltig machen?
Machen Sie Ihr Glück abhängig von intrinsischer Motivation.
Es gibt also etwas wie „nachhaltiges Glück“, das es einem ermöglicht, Tragödien, Misserfolge und Rückschläge zu bewältigen?
Konstant Hochgefühle zu erleben, ist unmöglich. Jeder hat Schwierigkeiten und Tiefen. Negative Gefühle können Sie aus Ihrem Leben nicht ausschließen. Die Frage ist, wie Sie belastbar, resilient werden. Resilienz ist unser psychologisches Immunsystem, wenn Sie so wollen. Ein starkes Immunsystem bedeutet nicht, dass Sie nicht krank werden. Es bedeutet, dass Sie seltener krank werden, Sie sich schneller erholen und über einen längeren Zeitraum gesehen, weniger leiden.
Würden Sie sagen, dass es kulturelle Unterschiede in der Einstellung zum Glück gibt?
Ja und nein. Es gibt Unterschiede zwischen den Kulturen. Manche Kulturen sind offener gegenüber Gefühlen, andere weniger. Aber insgesamt sind die Ähnlichkeiten größer als die Unterschiede. Ein Deutscher ist einem Amerikaner oder Kenianer oder Australier oder Japaner viel ähnlicher, als dass er sich von ihnen unterscheidet.
Über alle Kulturen hinweg können wir Gemeinsamkeiten beobachten: Wir alle suchen nach Sinn, wir suchen menschliche Bindungen, Beziehungen. Und wir streben nach Freude und versuchen schlechte Gefühle von uns fern zu halten.
Was können wir von Bhutan, dem Land, das das Bruttonationalglück geschaffen hat, lernen?
Das Bruttoinlandsprodukt zu messen und Noten in der Schule zu vergeben, ist wichtig, aber es ist nicht genug. Also sollten wir nicht aufhören den sogenannten harten Wirtschaftsfaktor zu messen, aber wir sollten unsere Neugier ausweiten. Es ist wichtig, auch das Glück zu messen. Glück und wirtschaftlicher Erfolg sollten beide auf nationaler und individueller Ebene gemessen werden. Wir müssen unser System nicht aufgeben. Aber wir sollten andere weiche Faktoren hinzufügen.
Haben Menschen Anspruch auf Glück? Oder ist es nur ein Teil unserer westlichen Kultur?
Gestern habe ich mit meiner Familie das Metropolitan Museum of Art besucht. Wir liefen durch die Säle zum antiken Ägypten. Als wir uns die Ausstellungsstücke ansahen, fiel uns auf, dass die meisten Dinge, die wir sahen, von einer Obsession mit dem Tod getrieben waren. Die Pyramiden wurden gebaut, um den Übergang der Pharaonen vom Leben zum Jenseits zu erleichtern. In Kunst und Literatur ging es darum, nicht zu sterben oder das ewige Leben zu genießen.
Im heutigen Leben sind wir eher von dem Glück besessen und ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Sache ist. Dies liegt auch an den Definitionen von Glück, die fehlerhaft sind: Glück bedeutet nicht, ständig „Hochs“ zu haben, nur Vergnügen zu genießen oder eine Leichtlebigkeit zu haben. Wahres Glück kann keine Obsession sein, es geht darum, nach Sinn und Bedeutung zu suchen, sich mit Menschen zu verbinden, zu wachsen und sich zu entwickeln, zu lernen, intellektuell mit Menschen und Natur zu interagieren. Glück erfordert eine ganzheitliche Sicht auf das Leben und die Menschlichkeit.
Wie würden Sie Glück definieren, nachdem Sie mehr als ein Jahr damit verbracht haben, weiter zu diesem Thema zu forschen?
Die Definition, die ich am nützlichsten fand, stützt sich auf die Worte von Helen Keller. Sie schrieb: „Für mich ist die einzige Definition von Glück Ganzheit.“ Von Keller inspiriert, definiere ich Glück als „die Erfahrung des Wohlergehens des ganzen Menschen“. Um die Definition weiter zu verdichten, verbinde ich die beiden Begriffe wholeperson and wellbeing. Es geht um „die Erfahrung des ganzen Wesens“. Ich führe eine Definition nicht ein, um alle anderen existierenden Definitionen zu ersetzen. Ich habe weder das Verlangen noch die Notwendigkeit, mit denen, die das Glück anders definieren, in Streit zu geraten. Nach meiner Auffassung besteht der Zweck einer Definition darin, das Konzept so zu operationalisieren, dass es für ein volles und erfülltes Leben genutzt werden kann. Über diese Definition hinaus besteht die Notwendigkeit, den Begriff des ganzen Wesens weiter aufzuschlüsseln, indem das Wohlergehen von Individuen, Gruppen und Gesellschaft über die fünf Elemente betrachtet wird, die zusammen die ganze Person ausmachen. Diese fünf Elemente sind: Spirituelles Wohlbefinden, körperliches Wohlbefinden, intellektuelles Wohlbefinden, Wohlbefinden in den Beziehungen und schließlich emotionales Wohlbefinden. Noch einmal, dies sind keine universellen und absoluten Wahrheiten, die ich oder jemand anderes durch eine göttliche Offenbarung erhalten haben. Vielmehr erweisen sich die fünf Elemente als nützliche und pragmatische Konstrukte. Zusammen bilden diese Elemente das Akronym SPIRE (Anm. d. Aut.: Spiritual, Physical, Intellectual, Relational, Emotional; Spire bedeutet auf englisch: Spitze, Kirchturm).